You are currently viewing Fernwanderung mit Diabetes Typ 1 – 150 Kilometer volle Kontrolle

Fernwanderung mit Diabetes Typ 1 – 150 Kilometer volle Kontrolle

Fernwanderung sind im Trend: Egal, ob Jakobsweg, Alpenüberquerung oder GR20 finden Wanderungen über mehrere Tage immer mehr Fans. Klingt nach einer Herausforderung mit Typ 1 Diabetes? Stimmt. Auf dem Goldsteig habe ich mich dennoch daran versucht. Ein Erfahrungsbericht: 7 Tage, 5 Tipps.

Schwer stütze ich mich auf meine Wanderstöcke. Ich stehe auf einem schmalen Fels und um meine Füße strömt Wasser. Gestern hat es den ganzen Tag geregnet, heute kommt fließt das Wasser vom Berg ins Tal. „Wanderwege sind ein perfektes Bachbett“, denkt sich das Wasser und bahnt sich seinen Weg um die Steine, auf denen ich jetzt den Berg hinaufklettern will. In diesem Moment piept natürlich der Dexcom. Auf dem Fels balancierend schiebe ich mir zwei Traubenzucker in den Mund. Weiter geht’s.

Die kleine Einstimmung zeigt dir, dass eine Wanderung immer eine Herausforderung ist und eine Fernwanderung mit Diabetes, umso mehr. Die Wege für eine ganze Woche sind vorgezeichnet: In meinem Fall sieben Tage und etwa 150 Kilometer auf dem Goldsteig. Egal wie das Wetter ist oder wie schwer die Beine sind: Am nächsten Tag musst du die nächste Etappe bezwingen und die nächste Unterkunft erreichen. Als Typ-1-Diabetiker:in kommt einfach für dich einfach noch eine weitere Schicht an Komplikationen hinzu. Aber keine, die nicht überwindbar ist.

TL;DR – Keine Zeit? Hier die Kurzfassung zum Fernwandern mit Diabetes

1. Fernwanderungen mit Diabetes erfordern Anpassungen beim Bolus und bei der Basalrate

2. Langkettige Kohlenhydrate sind bei langen Wanderungen das bessere Futter für den Diabetes

3. Typ 1 Diabetes macht keine Pause – auch bei extremer Anstrengung oder ekligem Wetter braucht der Diabetes deine Aufmerksamkeit

4. Der Körper ist zu mehr fähig als man denkt – egal ob mit oder ohne Diabetes

5. Ist die Wanderung vorbei, muss auch dein Diabetes-Management sich auch normalisieren

Tag 1: Wie hoch darf mein Blutzucker sein?

Bei Ausdauersport ist mein Ziel immer, dem Unterzucker möglichst fernzubleiben. Wie ich in meinem Beitrag „Wandern mit Diabetes“ schon erklärt habe, ist deshalb das Insulinmanagement der große Schlüssel zum Erfolg. Die Vorbereitung ist also für deine Fernwanderung mit Diabetes essentiell: Bevor es am ersten Tag losgeht, reduziere ich meine Basalrate um mehr als 50 Prozent. Normalerweise teile ich mir die Basalrate mit Levemir auf eine kleine Dosis morgens und eine größere Dosis zur Nacht auf. Ab jetzt verzichte ich morgens auf Langzeitinsulin. Das ist natürlich ganz individuell, jeder Diabetes ist anders und du solltest das nicht einfach genauso übernehmen. Ich habe es oft genug ausprobiert, dass ich so gut klarkomme. Und du solltest dich auch langsam herantasten.

Morgens bevor es auf den Berg geht, verzichte ich beim Frühstück auf den Bolus. Ich weiß, gleich zu Beginn steht ein schwerer Anstieg an, und mit Insulin im System fällt mein Zucker schon bei einem Spaziergang auf die Alarmgrenze hinab. Also nehme ich das kurzzeitige Hoch in Kauf. Nach der Busfahrt zum Berg stehe ich bei einem Blutzuckerwert von über 250 – da ich das aber einkalkuliert habe, mache ich mir keine Sorge und gemeinsam mit meiner Frau geht es an den ersten Anstieg.

Nach nur etwa einer halben Stunde bin ich wieder im Normalbereich, nach einer Stunde muss ich schon Zucker nachlegen, um meinen Blutzuckerwert zu stabilisieren. So ist das bei einer Fernwanderung mit Diabetes. Offensichtlich ist der Anstieg tatsächlich steil und meine Muskeln saugen Zucker auf, wie sie können. Dennoch fühle ich mich gut, ich lege frühzeitig Zucker nach und nicht erst, wenn der Dexcom piepst. Auf dem Berg angekommen stehen wir zwar in den Wolken, aber was zählt ist, dass der Gipfel erklommen ist.

Während einer Fernwanderung mit Diabetes zeigt der CGM Dexcom G6 Sensor auf einer Apple Watch 6 einen Graphen an. Der Wert zeigt 63 mg/dl und fallend an.
Auch, wenn ich den Bolus weglasse lande ich schnell im Unterzucker

Tag 2: Mit welchen Kohlenhydraten ist der Diabetes beim Wandern glücklicher?

Nach einer wenig erholsamen Nacht in einer ausgekühlten Jugendherberge geht es weiter. Zwar war das Abendessen so wenig nahrhaft, wie ich es aus Herbergsküchen erwarte (Nudeln mit Tomatensoße und Salat – von Proteinen hat man hier wohl noch nicht gehört), dafür ist das Frühstück voll in Ordnung. Es gibt neben den üblichen Brötchen mit geschmacklosem Käse auch Müsli mit frischem Jogurt. Da freut sich mein Diabetes.

Ich merke nämlich schnell auf dem Berg, dass kurzkettige Kohlenhydrate (Traubenzucker, Apfelschorle, weiße Brötchen) von meinen Muskeln in Sekundenschnelle verdampft werden, als würde man Zunder in ein loderndes Kaminfeuer werfen. Wenn du dagegen bei einer Fernwanderung mit Diabetes langkettige Kohlenhydrate (Haferflocken im Müsli, Vollkornbrot, CLIF-Bars) isst, ist das das deutlich bessere Muskelfutter bei Typ-1-Diabetes. Sie sind eher ein dicker Holzscheit, der langsam und stetig das Feuer am Laufen hält. So fällt dein Blutzucker auch bei einem Anstieg oder beim Kraxeln über Steinpfade nur langsam.

Der bayerische Nationalpark ist wunderschön und auch, wenn wir durch dichten Nebel wandern, wirkt es doch wie ein moosiger, wilder Märchenwald. Pause machen wir in einer Wetterschutzhütte und auch beim Mittag kann ich jetzt natürlich auf einen Bolus verzichten. Die Muskeln brauchen schließlich Futter.

Tag 3: Den Typ-1-Diabetes durch den Regen tragen

Nass. Alles. Ist. Nass. 20 Kilometer wandern wir durch strömenden Regen. Nicht ein leichter Landregen, sondern Sturzbäche kommen vom Himmel. Immerhin ist der Weg nicht anspruchsvoll so machen wir viele Kilometer in kurzer Zeit. Gerade am Anfang ist die Moral noch gut: Ein bisschen fühlt es sich an als würden wir der Natur diesen Wanderweg abtrotzen. Aber je mehr Nässe und Kälte durch die Regenjacken dringen, desto mehr steigt die Erschöpfung.

Diabetes-Management passiert also in dem Schietwetter nebenbei. Der Dexcom CGM, der zum Glück mit meiner Apple Watch kompatibel ist, erlaubt mir auch beim Marsch durch den Regen, den Blutzucker im Blick zu halten. Riegel sind hier die beste Wegzehrung, denn es gibt keine Verschnaufpause. Auf der gesamten Strecke sind keine Hütten, kein Unterstand, keine Bank im Trockenen. Also fühlt es sich an, wie ich mir einen „Megamarsch“ vorstelle: Möglichst viel Strecke, in möglichst kurzer Zeit ohne Pause machen.

Nach 20 Kilometern lässt schließlich der Regen nach. Erschöpft kämpfen wir uns über die letzten Kilometer, beißen auf einer noch feuchten Bank in die Brötchen aus unserer Mittagsverpflegung. Wir wechseln durchgeweichte Klamotten gegen trockene Fleece-Jacken aus dem Rucksack – und als wir endlich ankommen zweifeln wir, ob es am nächsten Tag weitergehen kann.

Nach einer Fernwanderung mit Diabetes: Der Autor mit Typ-1-Diabetes liegt auf einem Sonnenstuhl. Neben ihm liegt ein Wanderrucksack und Wanderstöcke
Geschafft aber glücklich am Ende eines Regentages

Tag 4: Wie ist das mit der Erholung und Diabetes?

Nach einem wunderbaren Abendessen in einem urigen Wirtshaus und einer erholsamen Nacht zeigt der Regenradar nur vereinzelte Wolkenfelder. Wir fassen neuen Mut, und es geht auf in die neue Etappe. Jetzt stehe ich in einem Bachbett, was früher mal der Wanderweg war, und klettere von Stein zu Stein, und versuche, mir keine nassen Füße zu holen. Tatsächlich ist diese Etappe über den Dreisessel eine der spannendsten und herausforderndsten Etappen, die wir wandern werden. Es geht an Wasserfällen vorbei, über Felsenmeere, entlang von Kuhweiden und durch dunkle Wälder. Zwar stecken wir immer noch in Nebelfeldern fest, aber dennoch ist das Wandern abwechslungsreich und fordernd – es macht also richtig Spaß!

Das ist das erstaunliche bei einer Fernwanderung (mit Diabetes). Wenn du drei Tage Fußmarsch hinter dir hast, gewöhnt sich dein Körper an die Strapazen gewöhnt. Es ist immer wieder erstaunlich, was der Bewegungsapparat so alles wegsteckt, wenn man ihn nur fordert. Und nach drei Tagen weißt du auch, wie du mit deinem Diabetes umzugehen hast, und das Management wird zur Routine. Egal ob mit oder ohne Typ-1-Diabetes: Wer beim Fernwanderweg die ersten drei Tage übersteht, der kommt (meistens) auch an.

Tag 5 bis 7: Und was ist nach der Wanderung?

Der Artikel ist jetzt schon lang, also fasse ich die letzten Etappen ein wenig zusammen. Die Wege bis nach Passau führen uns über die Deutsch-Tschechisch-Österreichische Grenze. Sie sind schön, immer noch neblig und weniger anspruchsvoll. Zwar machen wir nach wie vor einiges an Kilometern pro Tag, aber die Höhenmeter lassen nach. Und das ist auch die Rückmeldung meines Blutzuckers.

Sobald der Anspruch sinkt, steigt der Blutzucker. Auf einmal erreicht er wieder ungeahnte Höhen, wenn der Bolus fehlt. Zwar brauche ich noch keinen Bolus zum Essen und die Basalrate passe ich auch noch nicht an, aber mir wird klar: Sobald die Anstrengung der letzten Tage vorbei ist, muss ich auch zurück zum normalen Umgang mit Diabetes. Schon am nächsten Tag nach der Wanderung, an dem ich viel im Zug sitze passe ich meine Basalrate an. Zu den Mahlzeiten gibt es wie gewohnt einen Bolus. Alles wieder auf Normalzustand.

Zwei paar Wanderschuhe mit reichlich Dreck nach einer Fernwanderung stehen auf einem Gehweg
Am Ende der Wanderung sehen fühlen sich die Füße wie die Schuhe aussehen

Fernwanderung und Typ-1-Diabetes? Nur eine Frage des (Diabetes-)Management

Eine Fernwanderung finde ich eine wunderbare Möglichkeit abzuschalten. Und auch wenn der Diabetes manchmal nerven kann und der Verbrauch von Müsliriegeln enorm ist, macht es mir unheimlich Spaß. Ich hoffe mein Erfahrungsbericht und die Tipps machen dir auch Lust, es mal selbst auszuprobieren. Zwar musst du einiges beachten, aber das müssen wir Diabetiker:innen immer. Der Diabetes kann dich und deine Wanderpläne nicht aufhalten.

Schreibe einen Kommentar